Montag, 8. April 2019

[ #FreeBook ] Martin Luther zur "Türkenfrage"

[Free eBook] Manche religiöse Erzählungen sehen hoffnungsvoll zur Sonne. Die abendländische Erzählung ist hingegen die "Bedrohung aus dem Osten". Man erblickt(e) dort stets die Bedrohung in der Gestalt der Hunnen, Mongolen, Osmanen, Russen ... Selbst Globalisierungskritiker reden mit "Billigimporten aus dem Osten" in dieser Tradition.

Hoffnung kommt von den Osmanen.

Freilich wurde der Nachwelt in den Erzählungen von der "Türkenbefreiung" und den "Kreuzzügen" häufig unterschlagen, dass die Christen - entgegen zahlreicher unserer heutigen populärwissenschaftlichen Darstellungen - dem Islam gar nicht so abseits standen. Zum Einen aus dem wahren Grunde der Kriege (der damals wie heute mit Christentum und/oder Islam ebenso wie heute schlichtweg nichts zu tun hatte) aus reinem Macht(erhaltungs)interesse. Die "allerchristlichste Majestät", wie sich französische Könige mit päpstlicher Erlaubnis nennen durften, schloss Bündnisse sogar mit den Türken und verweigerten gemeinsam mit den protestantischen Ständen im Reich den Habsburgern die "Reichstürkenhilfe".

Die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zunehmend näher kommende "Türkengefahr" hatte ganz Europa in Angst und Schrecken versetzt. Obschon Luther einen christlich-motivierten Angriffskrieg gegen die Türken ablehnte, sprach er sich doch dafür aus, dass ein Christ, sofern ihn die "Obrigkeit" rufe, zum Krieg gegen den Feind ziehen müsse. Um die Soldaten zu motivieren sowie Volk und Herren aufzuklären, schrieb Luther Texte gegen die Türken und ihre Religion, den Islam. Er war davon überzeugt, dass man sie nicht nur mit dem Schwert, sondern auch mit Argumenten und im Gebet bekämpfen müsse.

So ließ Luther die Leute wissen, dass der Islam als eine christliche [!] Irrlehre zu verstehen sei. Er besitze keine Originalität, sondern sei eine Mischung aus Juden-, Christen-, und Heidenglauben. Der Prophet sei ein Schüler der altkirchlichen theologischen Ketzer gewesen, die die Trinität und Gottheit Jesu bestritten hatten. Auf der anderen Seite erkannte Luther aber den hohen Grad an Vernunft und Rationalität an, die den Islam für die Christen in die Nähe des Denkens der alten Griechen und Römer rücken ließ. Er schrieb, dass des Propheten „Gesetz lehret nichts anderes, denn was menschliche Weise und Vernunft wohl leiden kann.“ (Luther: Werke, Weimarer Ausgabe 30/2 168, 17 f.). Der Islam war für Luther eine Religion, die für die Kirche eine relae Konkurrenz als Religion bedeutete.

Tatsächlich argumentieren Forscher eine Nähe zwischen Islam und reformatorischem Christentum: Zwischen beiden gebe es viele Gemeinsamkeiten, bis auf die Anerkennung des Propheten Mohammed. Diese Gemeinsamkeiten werden vor allem im Kontrast zu katholischen Glaubensauffassungen deutlich: Beide haben ein positiveres Verhältnis zur Welt aufgrund von Ehe und Familie, Naturfreude und Arbeit, ebenso einen direkten Bezug der Gläubigen zu Gott, ohne die Mittlerfunktion einer heiligen Institution, einer Kirche. Reformatorisches Christentum und Islam haben die zentrale Stellung des Wortes Gottes bzw. der Schrift, und auch hier gibt es keine Mittlerfunktion, sondern das Recht des Einzelnen zur Auslegung; es gibt keine Bilder und Figuren, beide kritisieren Mythen wie die der Eucharistie. Alles in allem scheint es eine mehr rationale Wirklichkeitsauffassung zu sein, die Protestantismus und Islam näher aneinander rücken lässt.

Aber dies ist nicht der einzige Ansatz und der weit mehr unterschlagenere: Die apokalyptischen Reiter der Offenbarung wurden in Gestalt des Islams auch buchstäblich erhofft, nicht zuletzt gerade von Glaubensgruppen, die gerne in die unmittelbare Nachfolge der Urchristen gestellt werden: die Täufer.

Apokalyptische Reiter. Die aktuelle Auseinandersetzung mit Terrorismus und Islam, mit Migration und Religionsfreiheit, mit Samuel Phillips Huntingtons Clash of Civilizations hat etwas mit Martin Luthers Haltung zur "Türkenfrage" gemein: Die apokalyptische Interpretation der Welt. Dieselben geradezu arachaisch anmutenden, ins dunkle Mittelalter zurückführenden Argumentationsmuster finden sich nicht nur bei konservativkatholischen, evangelikalen und chiliastischen Kirchen- und Bibelversammlungen. Sie führen in die reale Politik. Bush's Feldzug gegen den Terrorismus mobilisierte ebenso diese Endzeitvorstellungen wie die scheinbar gänzlich entgegengesetzt sorgsam sich um das Weltklima mit Katastrophenszenarios kümmernden Klimapropheten.
Kurz. Die Beschäftigung mit den Bedingungen unseres (realen politischen) Werdens in der Geschichte hat viele Facetten. Eine Facette, die sich bis zur Unkenntlichkeit hinter Mythen versteckt, ist die "Türkenfrage". Daher ist die als PDF kostenlose downloadbare Dissertation "Geschichtsdenken und Ständekritik in apokalyptischer Perspektive" nicht nur ungemein aktuell sondern eine wahre Fundgrube um jene Erzählungen einer Überprüfung zu unterziehen, denen man selber zu folgen geneigt ist. Sie füllt zudem ein wenig ein grosses schwarzes Loch in dem ohnedies noch schwächelnden "christlich-islamischen Dialog".

[ #FREIHANDbuch ]⇒
Martin Luthers Meinungs- und Wissensbildung zur "Türkenfrage" auf dem Hintergrund der osmanischen Expansion und im Kontext der reformatorischen Bewegung - Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde des Fachbereichs Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität Hagen - Arbeitsbereich Geschichte und Gegenwart Alteuropas - vorgelegt von Dr. Michael Klein aus Hamm/Sieg

Briefmarkenausgabe 1933. Aus Anlass des Österreichischen Katholikentags (7.-12.9.1933) und der 250-Jahr-Feier der Türkenbefreiung. Auf diesem Katholikentag verbunden mit den Feierlichkeiten zum Jahrestag der "Türkenbefreiung" 1683 kündigte Dollfuß im September 1933 die Errichtung eines Ständestaates mit autoritärer Führung, also die Abschaffung der Demokratie, an!