Mittwoch, 25. Januar 2017

[ #eText ] Lou Andreas-Salomé - Die Erotik

[Free eBook]  "... daß aber Kunsttrieb und Geschlechtstrieb so weitgehende Analogien bieten, daß ästhetische Entzücken so unmerklich in erotisches übergleitet, die erotische Sehnsucht so unwillkürlich nach dem Ästhetischen, dem Schmuck greift  ..., das scheint ein Zeichen geschwisterlichen Wachstums aus der gleichen Wurzel. ..."

Psychoanalyse. Während der Jahre 1906-1910 arbeitete Lou Andreas-Salomé  an ihrem Essay "Die Erotik", erschienen 1910, welcher philosophisch-psychologische Betrachtungen über die Liebe und Sexualität anstellt.  In dieser Zeit wurden ihr beim Nachdenken über die Thematik ihre eigene Erotik und Sexualität, insbesondere in Verbindung zu ihrem damaligen Lebensgefährten Friedrich Pineles, zu einem Problem. Dieses Problem muß wohl Lou eine lange Zeit beschäftigt und eine Wende in ihrem Innenleben und Denken herbeigeführt haben. In dieser Wende ist ihre Empfänglichkeit für die Theorie und Praxis der Psychoanalyse zu erblicken und ein Grund ihrer bevorstehenden Entscheidung, sie sich anzueignen.
"Der Mann, der zu einer rohen Momentbefriedigung seiner Sinnlichkeit ohne jede nennenswerte Mitleidenschaft seiner übrigen Regungen fähig ist, benutzt dazu - oder mißbraucht, wenn man durchaus will - seine höher differenzierte körperliche Veranlagung, die es ihm möglich macht, eine Betätigung so zu isolieren, daß alles Übrige wie ausgeschaltet erscheint. Dies Mechanistische, fast Automatenhafte, gerade da, wo unserm Gefühl nach gerade das Intimste, Beseelteste, einzusetzen hat, gibt dem Vorgang sein Häßliches; eine Häßlichkeit indessen, die allen Übergängen und Zwischenstationen jeder Entwicklung als etwas Unproportioniertes, Unharmonisches, zu eigen ist. Das undifferenziertere Wesen der Frau, der in ihr noch nicht gebrochene Drang, nach intimer und intensiver Wechselwirkung aller Triebe untereinander, sichert der weiblichen Erotik die tiefere Schönheit; sie erlebt das Erotische anders, ihre Physis und Psyche reflektieren es anders, und daher muß sie auch anders beurteilt werden, wenn diese Schönheit nicht intakt bleibt."
Die Erotik. Der Mann könne, im Gegensatz zur Frau, all seine Lebensenergie in ein Projekt außerhalb seiner Selbst investieren; die Frau jedoch betrachte das Leben ganzheitlicher, sei im Vergleich zum Mann also vielmehr ein Baum, der nach Tiefe strebe, statt nach Weite. Aber nicht nur über die Unterschiede zwischen Mann ud Frau geht es Lou - auch um deren Interaktion. Erotik - das Mittel, am anderen zu sich selbst zu finden. Den anderen als Selbstzweck zu verstehen, nicht als Mittelpunkt. Erotik als Bild-Machen vom andern, nicht als Erkenntnissuche. "Lieben heißt Erschaffen." Und auch: "Lieben heißt Heimkommen im anderen." Die durch die Erotik hervorgerufene Produktivität sei dabei stets Ziel des Liebeskampfes.

Lou Andreas-Salomé (* 12. Februar 1861 in St. Petersburg, † 5. Februar 1937 in Göttingen), Pseudonym Henry Lou, war Psychoanalytikerin und Schriftstellerin. Sie wurde als sechstes Kind eines deutsch-baltischen Generals geboren. Bereits mit 16 Jahren trat sie aus der protestantisch-reformierten Kirche aus, nahm aber 1880 in Zürich das Studium der Religionsgeschichte auf, das sie wegen einer schweren Erkrankung abbrechen musste. Lou Andreas-Salomé betätigte sich hernach als freie Schriftstellerin. Sie führte trotz Dominanz der Männerwelt und den rigiden Moralvorstellungen im ausgehenden 19. Jahrhundert ein emanzipiertes Leben.

Als Lou Andreas-Salomé 1912 zum Studium der Psychoanalyse nach Wien kam, war sie 51 Jahre alt. Ihr ging der Ruf einer unerschrockenen, selbstsicheren Schriftstellerin voraus. Sie durfte als einzige Frau an den Mittwoch-Diskussionen bei Freud teilnehmen und genoss zeitlebens dessen höchsten Respekt: Eine Lebensfreundschaft verband sie später mit Anna Freud. Typisch für Salomé war dabei, dass sich die Schriftstellerin die neue Lehre zwar aneignete, sie aber für ihre schriftstellerischer Arbeit verwendete und nie zu den Dogmatikern oder einem Jünger-Kreis zu zählen war. Die Arbeit als Psychoanalytikerin ging Lou Andreas-Salomé bis zu ihrem Lebensende nach. In seinem Nachruf zum Tode von Lou Andreas-Salomé schrieb Sigmund Freud (1856-1939), der Begründer der Psychoanalyse, voller Hochachtung: "Die letzten 25 Lebensjahre dieser außerordentlichen Frau gehörten der Psychoanalyse, zu der sie wertvolle wissenschaftliche Arbeiten beitrug und die sie auch praktisch ausübte. Ich sage nicht viel, wenn ich bekenne, dass wir es alle als eine Ehre empfanden, als sie in die Reihen unserer Mitarbeiter und Mitkämpfer eintrat."

Vor allem wird Andreas-Salomé als Freundin berühmter Persönlichkeiten gehandelt. Sie war eng bekannt oder befreundet mit Friedrich Nietzsche, Rainer-Maria Rilke, Gerhart Hauptmann und dem sozialistischen Politiker Georg Ledebour, dem Regisseur Max Reinhardt, Frank Wedekind, Marie von Ebner-Eschenbach, Arthur Schnitzler und vielen anderen.

Lou Andreas-Salomé verfasste Gedichte, Romane und Zeitschriftenartikel und war als Schriftstellerin äußerst produktiv. Ihr Werk kreiste um die zentralen Themen Religion, Psychologie und Geschlechterbeziehung. Ihre Werke sind heute weitgehend vergessen, wurden aber zu ihrer Zeit enthusiastisch aufgenommen, besonders die Bücher "Ibsens Frauengestalten" von 1892, "Friedrich Nietzsche in seinen Werken" von 1894 und "Die Erotik" von 1910 (1921 veröffentlicht). Zu Lou Andreas-Salomés wichtigen schriftstellerischen Arbeiten gehören auch: "Im Kampf um Gott" (1883), "Ruth" und "Aus fremder Seele" (1896), ferner "Fenitschka", "Eine Ausschweifung", "Im Zwischenland" und "Tagebuch einer Russlandreise" (alle vier um 1900), "Rodinka" (1903; 1923 veröffentlicht), "Die Stunde ohne Gott", "Briefe an einen Knaben" (1917), "Narzissmund als Doppelrichtung" (1922). Posthum erschienen ihr Lebensrückblick "Mein Dank an Freud" (1931; 1951 veröffentlicht), ihre Briefwechsel mit Rilke (1952) und Freud (1966) sowie ihre Tagebücher "In der Schule bei Freud" (1958).

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